FTD.de - Gesundheitswirtschaft - Gesundheitswirtschaft - Mit der Kraft der Kräuter
Nirgendwo in Europa sind pflanzliche Arzneimittel so beliebt wie in Deutschland. Aussagekräftige Studien zu Effektivität und Risiken der Mittel fehlen jedoch weitgehend.
Mehrere Monate lang fühlte sich der 23-jährige Germanistikstudent antriebslos und niedergeschlagen. Sein Arzt verordnete ihm ein Medikament gegen Depressionen. Das Mittel half dem jungen Mann. Doch jetzt litt er unter den Nebenwirkungen des Präparats, schweren Hautausschlägen. Kurzerhand setzte er die Tabletten ab und kaufte sich Naturarznei, Kapseln mit Johanniskrautextrakt. Seitdem habe er kaum noch Beschwerden, berichtet der Student aus Marburg.
Nirgendwo in Europa erfreuen sich pflanzliche Arzneimittel so großer Beliebtheit wie in Deutschland. Die Zuwachsraten im Markt für Phytopharmaka - so heißen die Präparate in der Fachsprache - sind derzeit nach Expertenschätzung doppelt so hoch wie in der übrigen Pharmabranche. Auch in Osteuropa wächst das Interesse an deutschen Pflanzenprodukten.
Davon profitieren zumeist die großen Hersteller wie Schwabe, Spitzner, Bionorica, Klosterfrau oder Hexal, während viele der rund 450 kleinen und mittelgroßen Firmen derzeit um ihr Überleben kämpfen. Auf die fünf umsatzstärksten Anbieter entfallen nach Auskunft des Marktforschungsunternehmens Insight Health rund zwei Fünftel des Umsatzes.
Rund 815 Mio. Euro wurden im vergangenen Jahr mit Arzneimitteln auf Heilpflanzenbasis erwirtschaftet. Besonders gut verkaufen sich Ginkgopräparate gegen Durchblutungsstörungen, Produkte mit dem Wirkstoff Pelargonium zur Stärkung des Immunsystems oder Arzneimittel gegen Magen-Darm-Beschwerden.
Umsatz brach massiv ein
Wie wirkungsvoll die pflanzlichen Mittel sind, darüber gehen die Meinungen aber auseinander. Zu längst nicht allen Therapien gibt es wissenschaftliche Untersuchungen oder klinische Studien darüber, in welchem Verhältnis der Nutzen zum Risiko steht. "Nach heutigem Kenntnisstand schneiden einige Verfahren positiv ab, andere dagegen nicht", sagt Edzard Ernst, Lehrstuhlinhaber für Komplementärmedizin an der britischen Universität Exeter. "Es liegen entweder keine oder zu wenige solide Daten vor, oder die Datenlage ist widersprüchlich." Gut belegt ist beispielsweise nach Auskunft der Wissenschaftler der Nutzen von Johanniskraut bei mittelschweren Depressionen oder von Weißdorn bei Herzschwäche. Wirksam ist auch Kava gegen Angstzustände - aber wegen drohender Leberschäden gilt das Risiko als zu hoch.
Steil nach oben entwickelten sich die Absatzzahlen der Phytopharmakahersteller bis zum Jahr 2004. Dann kam die große Zäsur, das Inkrafttreten des Gesundheitsmodernisierungsgesetzes. Seitdem bekommen Patienten nur noch ausnahmsweise pflanzliche Präparate auf Kassenrezept verordnet. In den allermeisten Fällen müssen die Mittel aus eigener Tasche bezahlt werden.
Für die Industrie hatte das dramatische Auswirkungen: Innerhalb eines Jahres ging der Umsatz um 15 Prozent zurück. Statt 950 Mio. Euro im Jahr 2003 wurden 2004 nur noch 800 Mio. Euro für Phytopharmaka ausgegeben. Die Weiterentwicklung der Pflanzenheiltherapie ist von der Gesetzesänderung ebenfalls betroffen. "Weil bei den Herstellerfirmen der Umsatz stark abgenommen hat, ist auch die Forschung in diesem Bereich relativ unattraktiv geworden", sagt Karin Kraft, Lehrstuhlinhaberin für Naturheilkunde an der Universität Rostock.
Phytopharmaka benötigen in Deutschland eine Zulassung des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte. Genauso wie bei synthetischen Präparaten müssen die Hersteller Qualität, Unbedenklichkeit und Wirksamkeit ihrer Produkte mittels klinischer Studien nachweisen.
Etwas anders sieht das bei den sogenannten "traditionellen pflanzlichen Arzneimitteln" aus, die seit 2005 registriert werden können. Statt aufwendiger wissenschaftlicher Untersuchungen reicht es bei diesen Präparaten aus, wenn die Wirksamkeit plausibel erscheint. Zudem müssen sie seit mindestens 30 Jahren medizinisch im Einsatz sein, um ihre Zulassung zu erhalten. Traditionelle pflanzliche Arzneimittel dürfen aber nicht als Mittel gegen eine bestimmte Krankheit beworben werden. Stattdessen steht auf der Verpackung lediglich ein allgemeiner Hinweis wie "Zur Stärkung des Befindens".
Michael Popp, Vorstandschef bei Bionorica, einem der führenden Hersteller der Branche, will die Unterschiede zwischen den traditionellen Mitteln und den Phytopharmaka künftig verstärkt in der Vermarktung seiner Produkte herausstellen: "Wir wollen Transparenz auf den Beipackzetteln schaffen mit der Aussage, dass bei unseren Phytopharmaka sowohl pharmakologische als auch klinische Studien über die Wirksamkeit vorliegen."
Ob der breite Einsatz von Naturarzneien Geld sparen würde, darüber gibt es bislang keine aussagekräftigen Untersuchungen. Wenn sie als Zusatztherapien eingesetzt werden, treiben sie die Kosten "zwangsläufig in die Höhe", sagt Wissenschaftler Edzard Ernst. Natürlich könne es dennoch sein, dass die Gesamtkosten reduziert würden, zum Beispiel weil weniger Nebenwirkungen auftreten.
Damit künftig nicht mehr im Nebel gestochert werden müsse bei Aussagen zum Kosten-Nutzen-Verhältnis von Naturarzneien, brauche es verlässlichere Daten, meint Komplementärmediziner Ernst. "Wir sollten diesen Bereich ebenso gewissenhaft, kritisch und fair überprüfen wie alle anderen Gebiete der Medizin." Dazu müssten mehr Gelder aus unabhängigen Quellen in ihre Erforschung fließen. "Wenn wir heute die Chance verpassen, eine solide Evidenzbasis zu schaffen, so werden einige potenziell nützliche Methoden ganz einfach verschwinden. Die Leidtragenden wären dann wir alle."
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Wirksames Grünzeug
Gefahr Obwohl Naturarzneien normalerweise gut verträglich sind, kann es gefährlich sein, sie ohne ärztliches Wissen anzuwenden. So kann der Körper ein transplantiertes Organ abstoßen, wenn der Patient gleichzeitig Johanniskraut und bestimmte andere Medikamente zu sich nimmt.
Warnung Während deutsche Phytopharmaka in der Regel von akzeptabler Qualität sind, warnen Verbraucherschützer regelmäßig vor Produkten aus den USA, Indien und China. Die Präparate entsprächen nicht den Standards und enthielten in manchen Fällen sogar giftige Stoffe.
Aus der FTD vom 24.05.2007
© 2007 Financial Times Deutschland, © Illustration: FTD.de
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